Wirtschaft

Milliarden an Steuergeldern weg Wie der Fiskus Cum-Ex-Insider abblitzen ließ

Obwohl Beamte in Schäubles Ministerium informiert waren, will keiner am größten Steuerraub aller Zeiten Schuld sein.

Obwohl Beamte in Schäubles Ministerium informiert waren, will keiner am größten Steuerraub aller Zeiten Schuld sein.

(Foto: picture alliance / Kay Nietfeld/)

Jahrelang raubten Banken den Staat mit betrügerischen Aktiendeals aus. Whistleblower informierten Finanzbeamte immer wieder über den größten Steuerskandal aller Zeiten. Doch die wollten davon nichts wissen - oder verrieten die Informanten.

Dass die Mail, die am 15. November 2010 im Referat IV C1 im Bundesfinanzministerium einging, brisante Informationen enthalten würde, muss den Beamten schon nach der ersten Zeile klar gewesen sein. Mit "Persönlich/vertraulich" begann der Mann, der sich "Jürgen Schmidt" nannte, die Warnung, die er direkt an den Referatsleiter, Klaus Poppenberg schickte: Banken würden beim Aktienhandel im großen Stil den Fiskus prellen, indem sie sich die dabei anfallende Kapitalertragssteuer mehrfach erstatten ließen. Es müsse "sehr kurzfristig gehandelt werden". Er könne "detaillierte Informationen über verwendete Fondsvehikel sowie über in- und ausländische Beteiligte" liefern.

Doch weder Poppenberg noch das Finanzamt Darmstadt, an das "Jürgen Schmidt" ebenfalls mailte, gingen auf sein Angebot ein. Am 9. März 2011 klopfte er deswegen erneut bei Poppenberg an. Ein "mafiaähnlich organisiertes Netzwerk" stecke hinter den dubiosen Aktiendeals. "Warum besteht seitens der deutschen Finanzbehörden kein zeitnahes Interesse an einer unverbindlichen Stichprobe" von Geschäften, "die allein in 2011 wieder einen massiven Schaden von über 300 Millionen Euro verursachen werden"? Auf seine Frage bekam der Whistleblower nie eine Antwort. Er habe die Mail nur quergelesen, weil er schon in einem anderen Referat und nicht mehr zuständig gewesen sei, wird Poppenberg später erklären.

Das, wovor "Jürgen Schmidt" die Finanzbeamten 2010 warnte, ist inzwischen zur größten Steueraffäre aller Zeiten geworden: Bei sogenannten Cum/Ex-Deals konnten sich Banken im Aktienhandel dank Gesetzeslücken die Kapitalertragsteuer, die nur einmal gezahlt wurde, mehrfach vom Finanzamt erstatten lassen. Das funktionierte, weil die Papiere über Leerverkäufe mit (cum) Dividende vor dem Ausschüttungstag gekauft, aber erst nach dem Ausschüttungstag ohne (ex) Dividende geliefert wurden. Die beteiligten Banken sprachen sich bei den Geschäften ab und teilten den Gewinn.  

 

Ein Heer von Bankern, Beratern und Anwälten strickte ein Geschäftsmodell aus dem Schlupfloch. Gestopft wurde es erst 2012. Bis dahin griffen mehr als 100 Banken aus aller Welt schamlos in die Staatskasse - von der Citigroup, Barclays und der Deutschen Bank über die HypoVereinsbank bis zur DZ Bank. Selbst die Commerzbank, die der Staat in der Finanzkrise mit Milliarden rettete, und Landesbanken, die dem Staat gehörten, plünderten den Fiskus. Auch viele Prominente wie AWD-Gründer Carsten Maschmeyer, Fleisch-Fabrikant Clemens Tönnies oder Drogerie-König Erwin Müller investierten - doch von den Profiten aufkosten der Staatskasse wollen sie nie etwas gewusst haben.

Wären Informationen von Insidern wie "Jürgen Schmidt" sofort genutzt worden, hätten die Geschäfte viel früher gestoppt werden können. Über Jahre verschenkte der Staat Steuergeld an Betrüger. Milliarden, die für Schulen, Straßen und Polizisten hätten ausgegeben werden können, versickerten in den Taschen von Steuerräubern. Das sind die zentralen Erkenntnisse im Abschlussbericht zur Cum-Ex-Affäre, den der Bundestag heute debattiert.

"Nichtangriffspakt zwischen Union und SPD"

Oder zumindest des Teils, den Grüne und Linke verfasst haben. Denn auf eine gemeinsame Sicht konnten sich Opposition und Regierung nicht einigen. Union und SPD weisen die Schuld für den Skandal weit von sich: In ihren Augen war "dieser Untersuchungsausschuss nicht erforderlich". "Alle Behörden" hätten "sachgerecht und pflichtgemäß gearbeitet". Weder SPD-Finanzminister Peer Steinbrück noch CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble wollen Verantwortung dafür übernehmen, dass unter ihrer Führung Milliarden aus der Staatskasse verschwanden.

Nicht mal über die Schadenssumme besteht Einigkeit. Von 900 Millionen Euro geht der Ausschussvorsitzende Hans-Ulrich Krüger (SPD) als "vager Schätzung" aus. CDU-Finanzpolitiker Christian Hirte ist sich noch nicht einmal sicher, "ob überhaupt und in welcher Höhe ein Schaden eingetreten ist". Die Grünen haben sich die Mühe gemacht, Daten auswerten zu lassen, die der Börsenabwickler Clearstream dem Untersuchungsausschuss geliefert hat. Demnach verschenkte der Fiskus allein zwischen 2005 und 2011 mindestens 7,2 Milliarden Euro an die Banken.

"Die Koalitionsfraktionen versuchen, den Schaden kleinzureden, von Versäumnissen in der Finanzverwaltung abzulenken und die Aufklärung an entscheidenden Stellen zu blockieren", kritisiert Grünen-Finanzexperte Gerhard Schick. Union und SPD hätten einen "Nichtangriffspakt" geschlossen, um Schäuble und Steinbrück aus der Schusslinie zu bringen. Mit "katastrophalen Fehlern" habe die Finanzverwaltung "den milliardenschweren Raubzug der Cum-Ex-Mafia überhaupt erst ermöglicht", sagt auch Richard Pitterle (Linke). Zahllose E-Mails, Dokumente und die Aussagen von über 70 Zeugen, die der Ausschuss über mehr als ein Jahr zusammengetragen hat, enthüllen, wie sich heillos überforderte Beamte von Lobbyisten einlullen ließen und den größten Steuerskandal aller Zeiten verschliefen.

Bandenmäßiger Raubzug beim Steuerzahler

Das unerwartete Angebot von Insider "Jürgen Schmidt" war dabei nur eine von vielen verpassten Gelegenheiten, die Cum-Ex-Maschine früh zu stoppen. "Ich habe das nicht so verstanden, dass er uns etwas verkaufen wollte", rechtfertigte sich Referatsleiter Poppenberg vor dem Untersuchungsausschuss. Zudem sei das Gesetz, das die Cum-Ex-Deals 2012 endlich trockenlegte, schon auf dem Weg gewesen, als Schmidts Mail eintrudelte. Für den Ankauf von Steuerdaten seien die Länder zuständig gewesen, erklärt das Finanzministerium auf Anfrage von n-tv.de. Man habe das Angebot an die hessische Finanzverwaltung weitergeleitet. Die habe sich aus rechtlichen Bedenken gegen einen Kauf entschieden, um "Jürgen Schmidt" nicht zum Diebstahl der Daten anzustiften und somit Beihilfe zu einem Verbrechen zu leisten.

Schon im März 2009 hatte ein anderer Whistleblower Poppenberg und seine Mitarbeiter gewarnt, durch die Cum-Ex-Deals könne dem Fiskus allein in einem Jahr "ein potentieller Schaden in Höhe von bis zu 12 Milliarden Euro entstehen". Ob die Beamten weitere Informationen von dem Insider einholten, ist nicht dokumentiert. Fest steht nur, dass sie das Ausmaß der Steuerausfälle intern als "realistisch" einstuften. Trotzdem verschickte Finanzminister Steinbrück im Mai 2009 lediglich einen Rundbrief, der die Banken verpflichtete zu bestätigen, dass sie sich bei den dubiosen Geschäften nicht abgesprochen hätten, den Fiskus zu prellen.

Die Bafin enttarnt ihren Informanten

Nicht nur das Finanzministerium schaute dem Steuerraub untätig zu. Auch die Bafin hatte schon im Jahr 2007 Hinweise von einem anonymen Informanten auf Cum-Ex-Deals bei mehreren Banken. Doch die wurden weder an das Finanzministerium, noch Steuerfahnder oder Staatsanwälte weitergegeben. Alle Akten dazu haben Union und SPD mit ihrer Mehrheit im Ausschuss als geheim eingestuft, obwohl sie laut den Grünen "höchst aufschlussreich" sind und "heute keine Geschäftsgeheimnisse mehr gefährden".

Man sei rechtlich verpflichtet, Betriebsgeheimnisse der Banken zu schützen und habe sich bis zu einer Gesetzesänderung 2015 auch nicht mit den Steuerbehörden austauschen dürfen, rechtfertigten sich Ex-Bafin-Chef Jochen Sanio und andere leitende Finanzaufseher vor dem Untersuchungsausschuss. Eine Pflicht, Informationen weiterzuleiten, habe nicht bestanden. Dabei konnte die Bafin auch vor 2015 bei schweren Steuerstraftaten tätig werden, "an deren Verfolgung ein zwingendes öffentliches Interesse besteht", wie es im Gesetz hieß. "Ich persönlich hätte das an die zuständigen Stellen weitergeleitet", sagte auch Jörg Asmussen, Ex-Staatssekretär im Finanzministerium, vor dem Untersuchungsausschuss zu einem geheimen Bafin-Dokument zu den Cum-Ex-Geschäften.

Die Bafin behielt Insider-Informationen über die Cum-Ex-Deals nicht nur für sich. In einem Fall verriet sie den Tippgeber sogar an genau die Cum-Ex-Betrüger, die er angezeigt hatte. Frank Tibo war von 2002 bis 2014 Chef der Steuerabteilung der HypoVereinsbank. Als ihm Unregelmäßigkeiten bei Geschäften der HVB-Händler auffielen, konfrontierte er damit sowohl die Compliance-Abteilung als auch HVB-Chef Theodor Weimer persönlich. Die HVB applaudierte Tibo allerdings nicht für seine Ehrlichkeit, sondern feuerte ihn 2014.

Tibo klagte gegen die Kündigung: Er sei "brutal aus dem Weg geräumt worden", weil er auf die Cum-Ex-Geschäfte hingewiesen habe, sagte er der "Süddeutschen Zeitung". Am Ende gaben ihm die Richter Recht. Um die Geschäfte aufzudecken, hatte sich Tibo auch an die Bafin gewandt und ausdrücklich um Anonymität gebeten. Doch die Finanzaufsicht kümmerte das offenbar wenig: Die Bafin habe ihn bei der HVB verraten, sagte Tibo vor dem Untersuchungsausschuss unter Berufung auf ihm vorliegende, geheime Dokumente.

Ein Maulwurf im Ministerium

Auch in den Finanzministerien arbeiteten Beamte mit fragwürdigem Loyalitätsverständnis. In einer Mail an das Finanzamt Darmstadt warnte Insider "Jürgen Schmidt": Seine Informationen über die Cum-Ex-Betrüger sollten "keinesfalls" mit dem zuständigen Referat im Berliner Finanzministerium geteilt werden, "da die Initiatoren über einen direkten, sehr guten Kontakt zu einem Mitarbeiter des Referats verfügen". Im Klartext: Im Finanzministerium arbeitete ein Maulwurf der Banken.

Einen heißen Draht zur Finanzlobby hatte dort vor allem ein Beamter: Arnold Ramackers. Seine Rolle in der Cum-Ex-Affäre spricht Bände über die "naive Vertrautheit im Umgang mit den Branchenverbänden", die die Grünen im Abschlussbericht kritisieren. Der Finanzrichter aus Düsseldorf war von 2004 bis 2008 als Experte für Kapitalertragsteuer ans Finanzministerium abgeordnet, weil es dort zu wenig Personal gab. Als das Finanzministerium 2007 erstmals versuchte, die Gesetzeslücken zu schließen, die die Cum-Ex-Deals ermöglichten, kopierte Ramackers Formulierungen des Bankenverbands wortgetreu ins Gesetz. Danach nahmen die dubiosen Aktiengeschäfte erst richtig Fahrt auf - übers Ausland, wo der Staat die neuen Regeln nicht durchsetzen konnte.

Die Lobbyisten jubelten. Und bezahlten Ramackers ab 2008 sogar ein Jahr lang aus eigener Tasche, während er - offiziell beurlaubt - im Ministerium weiter an Gesetzen werkelte. Als "fachlich interessierter Staatsbürger", wie er sich selbst nannte, nahm Ramackers noch 2011 ohne Vergütung an Arbeitstreffen des Ministeriums mit den Banken teil - und leitete vertrauliche Entwürfe über seinen privaten Mailaccount an die Bankenverbände weiter. Ein Lobbyist lobte Ramackers Anstellung intern als "sinnvolle Investition": Er habe "durch sein positives Wirken" nachgewiesen, "dass die Entscheidungsfindung im Finanzministerium erheblich beschleunigt werden kann. Hierdurch sparen die Kreditinstitute Zeit und Kosten".

Erst die Steuerfahndung Wuppertal beendete 2015 endgültig den Dornröschenschlaf des Staates. Anders als im CDU-regierten Hessen bekamen die Ermittler von der rot-grünen NRW-Landesregierung die Freigabe, von einem Cum-Ex-Insider namens "Paul Smith" für fünf Millionen Euro einen USB-Stick zu kaufen. Darauf fanden sich unter anderem die Namen von 129 beteiligten Banken. Staatsanwälte in Köln, Frankfurt und München versuchen seitdem in dutzenden Verfahren, das Steuergeld zurückzuholen, das der Fiskus über Jahre an die Institute verschenkt hat. Viele der Insider haben dank der Beweise inzwischen ausgepackt.

Das Finanzministerium kann in der Cum-Ex-Affäre keine eigenen Fehler erkennen. Der Untersuchungsausschuss habe "ausdrücklich die vorbildliche und effiziente Aufarbeitung von Cum/Ex-Fällen durch die Finanzbehörden gewürdigt", teilte ein Sprecher auf Anfrage von n-tv.de mit. Auch beim Umgang mit Informanten sieht Finanzminister Schäuble keinen Handlungsbedarf: "Die Arbeit des Untersuchungsausschusses hat gezeigt, dass die Finanzbehörden verantwortungsbewusst mit Informationen von Whistleblowern umgegangen sind."

Quelle: ntv.de

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